Dass sich der Meeresspiegel erhöht, steht außer Frage. Der Weltklimarat Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) geht aktuell (Ende 2018) davon aus, dass der globale Meeresspiegel von 1901 bis 2015 um 19,5 Zentimeter angestiegen ist. Seit den 1990er-Jahren hat sich der Anstieg Expertenangaben zufolge auf gut drei Millimeter pro Jahr beschleunigt. Unstrittig ist, dass Veränderungen des Meeresspiegels verschiedene Ursachen haben können. Welche Rolle spielt bei den jüngsten Entwicklungen schmelzendes Gletschereis?
Antwort: Wollte man ihn wortwörtlich nehmen, wäre der Ausdruck Meeresspiegel alles andere als eine gelungene Wortschöpfung. Weder ist das Meer spiegelglatt, noch ist der Meeresspiegel überall gleich. Ein wesentlicher Grund dafür sind Gesteine im Erdinneren, die ungleichmäßig verteilt sind. Bei ihnen handelt es sich um Massen, und Massen haben grundsätzlich die Eigenschaft, dass sie andere Massen anziehen. Die ungleichmäßige Verteilung hat zur Folge, dass die Anziehungskraft nicht überall gleich ist. Hinzu kommt der Einfluss der Wind- und Strömungsverhältnisse, des Luftdrucks und der Gezeiten. Die Anziehungskraft des Mondes führt zu Gezeitenwellen – mit der Folge, dass der Wasserstand in der Karibik ein anderer sein kann als der im Pazifik.
Neben kurzfristigen gibt es allerdings auch langfristige Veränderungen des Meeresspiegels. Zu den Gründen gehört das Heben und Senken von Landmassen. Während der letzten Kaltzeit, die vor etwa 11.700 Jahren endete, lag Skandinavien unter einer kilometerdicken Eisdecke. Ohne das Gewicht des Eises konnte sich die skandinavische Landmasse heben – ein Vorgang, der bis heute andauert. Ein wesentlicher Grund dafür, dass der Meeresspiegel steigt, ist die globale Erwärmung. Neben der Luft- nimmt auch die Wassertemperatur zu. Eine steigende Temperatur des Wassers hat zur Folge, dass seine Dichte abnimmt. Das heißt: Es dehnt sich aus und nimmt mehr Raum ein. Hinzu kommt, dass die Erwärmung der Luft dazu führt, dass in Gebirgsgletschern und in den Eisschilden der Arktis und Antarktis gebundenes Eis schmilzt. Wie das wärmere Meerwasser, so hat auch das vom Land ins Meer fließende Schmelzwasser einen Anstieg des Meeresspiegels zur Folge.
Der Geografie-Professor Ben Marzeion von der Universität Bremen hat gemeinsam mit seinem Kollegen David Parkes von der Universität Innsbruck im Fachjournal „Nature“ eine Studie veröffentlicht, die die Bedeutung kleinerer Gletscher für den Meeresspiegelanstieg ins Blickfeld rückt. Gletscher sind aus Schnee entstandene Eismassen, die sich eigenständig bewegen, das heißt zum Beispiel, dass sie tief in die Täler rutschen. Es gibt sie sowohl in der Arktis und Antarktis als auch in Gebirgen wie den südamerikanischen Anden, dem asiatischen Himalaja und den europäischen Alpen. In den Polargebieten kommt es immer wieder vor, dass Gletscher spektakuläre Schauspiele bieten. So kann die Eiszunge eines Gletschers beim Erreichen des Meeres abbrechen, sprich: Es entsteht ein Eisberg. Experten sagen in solchen Fällen, der Gletscher kalbe. Wie Marzeion und Parkes betonen, war der globale Meeresspiegelanstieg im 20. Jahrhundert vor allem eine Folge des Massenverlustes von Gletschern und Eisschilden, der Erwärmung des Meerwassers und der Tatsache, dass Grundwasservorkommen an Land genutzt wurden. Nach der Nutzung von Grundwasser – etwa durch die Industrie – gelangt dieses häufig ins Meer.
Die Universität Bremen zitiert Marzeion in einer Mitteilung mit der Aussage, dass sich bislang nur drei Viertel des seit dem Jahr 1900 beobachteten Meeresspiegelanstiegs auf der Grundlage der genannten Faktoren erklären ließen. Eine mögliche Erklärung für die Lücke liefern der Bremer Professor und sein Kollege in ihrer Studie. Wie sie erläutern, beruhen die Schätzungen zum Beitrag der Gletscher zum Meeresspiegelanstieg auf Verzeichnissen, in denen kleinere Gletscher unberücksichtigt geblieben seien. Informationen über die Erdoberfläche gewinnen Forscher oft mithilfe der Fernerkundung, also zum Beispiel von Flugzeugen und Satelliten. Allerdings ist es laut Marzeion sehr schwierig, auf der Grundlage von Fernerkundungsdaten kleine Gletscher zu finden. Hinzu komme, dass im Laufe des 20. Jahrhunderts solche Gletscher verschwunden sind. Parkes hat eine statistische Methode entwickelt, um abzuschätzen, wie sich nicht erfasste Gletscher in der Vergangenheit entwickelt haben.
Nach den Erkenntnissen der beiden Wissenschaftler haben unbekannte und verschwundene Gletscher in der Zeit von 1901 bis 2015 zwischen etwa 1,7 und 4,8 Zentimeter zum Meeresspiegelanstieg beigetragen. Allein den Anteil der unbekannten, aber noch vorhandenen Gletscher, die nicht in den Verzeichnissen enthalten sind, beziffern Marzeion und Parkes auf ungefähr 1,2 bis 4,3 Zentimeter.
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