Abenteuer Ausstieg
Den Alltagstrott hinter sich lassen. Irgendwo anders noch einmal neu von vorne anfangen. Davon träumen sehr viele. Aber woher kommt diese Sehnsucht? Und was macht man, wenn sie einen nicht mehr loslässt?
Anfang Juni des vergangenen Jahres räumte Sven G.* sein Büro. Er gab den Dienstwagen ab und verabschiedete sich von seiner Sekretärin. Dann fuhr er nach A.*, einem kleinen Ort im Allgäuer Voralpenland. Er ließ alles zurück, was bis dato Sicherheit versprach: Beamtenstatus, Pensionsanspruch und ein sechsstelliges Jahresgehalt. G.* war Finanzbürgermeister im baden-württembergischen K.*, leitete eine Behörde mit 1.000 Mitarbeitern und verwaltete einen Etat von über 300 Millionen Euro. Heute tourt der 45-jährige durch die Republik und singt: „Was kostet die Welt?“
Sehnsucht nach Freiheit
So mancher Kollege im Rathaus glaubte zunächst an einen Scherz. Dem Politiker wurden beste Chancen für eine zweite Amtszeit eingeräumt und sogar Ambitionen auf den Posten des Ersten Bürgermeisters festgestellt. Doch als seine Frau ihren 40. Geburtstag feiert und er dafür einen Song komponiert, wird ihm klar, dass er die politische Bühne gegen das Showgeschäft eintauschen muss. Nach Ende der Legislaturperiode kehrt G.* dahin zurück, wo er aufgewachsen ist, nach A.*, und produziert seine erste CD. „Ich genieße meine Freiheit und obwohl ich oft unterwegs bin, bleibt mehr Zeit mit meiner Frau und den Kindern.“
Vom Hüter der Bilanzen zum Meister der Emotionen mag es ein spektakulärer Schritt sein – eine Ausnahme ist Sven G.* nicht. Etwa ein Viertel der Deutschen träumt laut einer Umfrage des Magazins „Stern“ davon, das Leben völlig umzukrempeln. Von den Befragten im Alter zwischen 30 bis 44 Jahren kann sich sogar ein Drittel vorstellen, aus dem täglichen Trott auszusteigen. Und die Zahl derer, die tatsächlich einen Neuanfang wagen, nimmt zu.
Das beobachtet auch das Institut für Arbeitspsychologie und Arbeitsmedizin Herdecke und die Universität Heidelberg: „Unsere Arbeitswelt wird immer komplexer und schneller – das überfordert viele Menschen. Deshalb versuchen sie, sich dieser zunehmenden Unübersichtlichkeit zu entziehen.“ Der Mensch sei nun mal ein „Rhythmustier“, er könne nicht ständig Vollgas geben, sondern brauche den Wechsel von Anspannung und Entspannung.
Falsche Entscheidungen
Das andere Motiv: Viele Arbeitnehmer merken irgendwann, dass sie den falschen Job haben. Solche Fehlentscheidungen resultieren für den Psychologen und Mediziner daraus, dass die Berufswahl selten eine Entscheidung zwischen mehreren Alternativen ist. Oft rutscht man in eine Aufgabe hinein oder fällt eine Negativentscheidung – also man schaut, was vermeintlich alles nicht geht, und nimmt dann den Beruf, der übrig bleibt.
Eine Berliner Berufsberaterin kennt dieses Phänomen aus ihrer Praxis. Seit 18 Jahren arbeitet sie als Coach für Menschen, die das Gefühl haben, noch einmal ganz von vorne anfangen zu müssen. Die meisten Jugendlichen haben genaue Vorstellungen von ihrer Zukunft, aber wenn sie davon sprechen, errichten Eltern oder Verwandte einen Berg von Bedenken, hinter dem jede Freude an der Berufsfindung verschwindet. Irgendwann kommen diese Menschen dann zu ihr, klagen, dass sie den ganzen Tag Excel-Tabellen zusammenstellen oder sich stundenlang in ergebnislosen Meetings langweilen. Und dann fragen sie sich: Was mache ich eigentlich hier?
Einige ihrer Kunden zieht es aber auch einfach so in die Ferne. Chantal F.* beispielsweise. Die Krankenschwester drückte mit 35 Jahren noch mal die Schulbank, paukte Schiffbau, Meteorologie und Navigation. Heute ist sie Kapitänin auf einem großen Frachter zwischen Bremen, Südafrika und Singapur.
Die weite Welt ruft
Mehr als 100.000 Bundesbürger gehen Jahr für Jahr noch einen Schritt weiter und kehren Deutschland ganz den Rücken. 70 Prozent der Auswanderer zieht es ins europäische Ausland. Außerhalb Europas gehören die USA, Kanada und Australien nach wie vor zu den bevorzugten Zielen. Die meisten nennen persönliche und familiäre Gründe für die Auswanderung, aber auch die Hoffnung auf bessere Berufs- und Karrierechancen. Hinzu kommt die Sehnsucht nach mehr Lebensqualität, so eine Referentin für Öffentlichkeitsarbeit beim Raphaelswerk in Hamburg. Der selbstständige Fachverband der Caritas berät seit 1871 Menschen auf ihrem Weg in die neue Heimat und koordiniert bundesweit vierzehn Beratungsstellen.
Neben den Informationen, etwa zu Aufenthaltsbestimmungen, zur Sozialversicherung oder zur Anerkennung von Abschlüssen, spielen psychosoziale Aspekte bei der Beratung eine große Rolle. Schließlich hat so ein Ausstieg Konsequenzen, nicht zuletzt im Portemonnaie. Doch das Geld oder ein schlechter bezahlter Job ist oft gar nicht die größte Schwierigkeit. Vielmehr muss man sich fragen: Bin ich wirklich bereit, alles hinter mir zu lassen? Was ist, wenn die Kinder in der neuen Umgebung nicht zurechtkommen? Oder die Eltern, die zurückbleiben, plötzlich krank werden?
Wichtig ist, schon beim Auswandern an eine mögliche Rückkehr mitzudenken. Denn selbst die beste Vorbereitung ist keine Garantie dafür, dass der Ausstieg dauerhaft glückt. So treibt die Wirtschafts- und Finanzkrise immer mehr Auswanderer zurück nach Deutschland. Auch beim Raphaelswerk gehen täglich Anfragen von Menschen ein, die ihren Job im Ausland verloren haben. Darunter auch die einer jungen Deutschen, die zusammen mit ihrem zwei Monate alten Sohn und ihrem Freund in Malaga lebt. In Spanien hat die kleine Familie keine Perspektive. Auch fehlt das Geld für den Umzug nach Hessen und die Aufenthaltsgenehmigung für den Freund, der aus Venezuela kommt.
An erster Stelle stehen auch bei den Rückwanderern familiäre oder berufliche Gründe, gibt das Raphaelswerks an. Das kann eine Krankheit, ein pflegebedürftiger Angehöriger, Heimweh oder die Trennung vom Partner sein. Wie im Fall einer Betriebswirtin, die nach dem Studium in die USA ging und einen dort lebenden Deutschen heiratete. Inzwischen ist sie geschieden, plant nach Heilbronn zurückzukehren, um in der Nähe der Eltern zu sein. An das Raphaelswerk hat sie sich gewandt, um ihre Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt auszuloten. Am liebsten wäre ihr ein Bürojob, bei dem man Englischkenntnisse braucht.
Hauptsache glücklich
Der Weg des früheren schwäbischen Bürgermeisters Sven G.* führte aus der Amtsstube hinaus. Natürlich habe es neben Erfolgen auch manchen Rückschlag gegeben, dennoch bereute er seine Entscheidung keine Sekunde. Nur manchmal hört man zwischen den Zeilen noch den Politiker heraus: „Mit meiner Musik mache ich Menschen zumindest zeitweise glücklich und glückliche Menschen, die das Miteinander schätzen, sind das Rückgrat einer funktionierenden Gesellschaft.“ Aber dann will er doch lieber über seinen neuen Hit sprechen. Er heißt: „Willkommen im Leben“.
Von großen Plänen …
Das Raphaelswerk rät Auswanderwilligen, sich ausführlich beraten zu lassen – erst recht, wenn man eine der folgenden fünf Fragen mit Nein beantwortet:
- Beherrschen Sie die Landessprache so gut, dass Sie sich problemlos verständigen können?
- Haben Sie einen Job in Aussicht oder gibt es ein ernstzunehmendes Stellenangebot?
- Sind Sie vor Ort kranken- und sozialversichert?
- Verfügen Sie über finanzielle Reserven., falls Sie Engpässe überbrücken müssen oder Sie das Heimweh packt?
- Haben Sie sich überlegt, was passiert, wenn Sie krank werden oder einem Ihrer Angehörigen etwas zustößt?
Weitere Informationen sowie die Adressen von Beratungsstellen gibt es beim Raphaelswerk unter www.raphaelswerk.de oder über das Bundesverwaltungsamt unter www.bva.bund.de.
… auf kleinen Fluchten
Nicht jeder hat den Mut oder die Möglichkeit, sein gewohntes Leben aufzugeben und neu anzufangen. Drei Tipps für mehr Zufriedenheit trotz Alltag:
- Beugen Sie Stress vor und versuchen Sie Ihren Job so anzugehen, dass er sich nicht nur nach Arbeit anfühlt. Der Weg dahin führt über eine sinnvolle Einteilung von Arbeitszeit und Freizeit. Und ärgern Sie sich nicht zu lange, wenn etwas danebengeht. Konsequenzen ziehen und abhaken.
- Reservieren Sie sich regelmäßig Zeit für sich selbst. Ob Lesen, Musik hören, Doggen oder Yoga: Hauptsache Sie vergessen alle Termine und Probleme.
- 3. Denken Sie über einen Ausstieg auf Zeit nach. Wer Ruhe und Besinnung sucht, findet diese vielleicht in einem Kloster. Einen größeren räumlichen Abstand zum Alltag gewinnt man auf Reisen. Menschen, die mit dem Gedanken spielen, sich beruflich neu zu orientieren, können sich weiterbilden oder Freiwilligenarbeit leisten.
* Namen und Orte geändert
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