‚Die Maus am Stiel‘ – eine Weihnachtsgeschichte

Eine Weihnachtsgeschichte zum Lesen und Vorlesen …

Pfefferminze oder Johannisbeere? Oder doch lieber Zimt? Äskulapi konnte sich nicht entscheiden. Er spähte in den Kessel, in dem es kräftig blubberte. Neben dem Herd lagen ein Haufen Minzblätter, eine Schale mit leuchtend roten Johannisbeeren und ein Stapel Zimtstangen. Welches Aroma sollten die Hustenbonbons nun bekommen? Unschlüssig rührte Äskulapi mit einem langen Löffel in der kochenden Masse.

Es war Weihnachten. Draußen wurde es langsam dunkel und Äskulapi fühlte sich ein bisschen einsam, so allein in seiner Apotheke. Er war nämlich Apotheker und hatte an den Feiertagen Dienst. Sein Laden war wirklich schön: mit einer großen Küche im hinteren Teil (Äskulapi nannte sie „das Labor“) und meterhohen Schränken mit vielen Schubladen. Äskulapi hatte sie nie gezählt, aber es mussten hunderte Schubladen sein.

Er stellte sich vor, wie seine Freunde jetzt unter dem Tannenbaum Musik machten oder Plätzchen aßen. Wie sie vor Lachen rote Köpfe bekamen, wenn einer einen Witz erzählte. Ein richtig guter Weihnachtswitz wollte Äskulapi gerade nicht einfallen. Und bestimmt wäre er traurig geworden, wenn die Türklingel in diesem Augenblick nicht gebimmelt und ihn abgelenkt hätte. „Komme schon!“, rief Äskulapi, ließ den Löffel fallen und eilte nach vorn, wo ein Tresen stand und er seine Kunden bediente.

Durch die Tür kam eine korpulente Dame im dunkelgrünen Mantel. Sie hieß Mathilde und war eine braun-weiß gefleckte Kuh. An der linken Pfote trug sie eine verbeulte Handtasche und auf dem Kopf ein Häubchen aus Schnee. „Es schneit“, sagte Mathilde. Tatsächlich: Draußen fielen feine Flocken. Äskulapi hatte das gar nicht bemerkt. „Fehlt dir was?“ fragte er. „Gar nichts – aber dir!“ flötete sie und kramte eine Metalldose mit frischen Keksen aus ihrer Handtasche. „Selbstgebacken“, fügte sie hinzu. „Setz dich doch, bleib ein bisschen“, bat Äskulapi. Doch Mathilde schüttelte den Kopf, so dass ein paar Schneeflocken von ihren samtigen Ohren flogen. „Zuhause schmort das Festtagstofu im Ofen, da muss ich gleich wieder los.“ Und weg war sie.

Die Tür war noch nicht zugefallen, da machte es plötzlich leise „Ha-ha-haatschi!“. Nanu? Äskulapi beugte sich über den Tresen und sah ein Ferkel im Engelskostüm. Es trug zwei wundervolle Flügel aus Goldpapier und einen weißen Umhang aus Tüll. Außerdem hatte es eine knallrot geschwollene Nase. „Oh, Babette! Du brauchst wohl ein Schnupfenspray?“ meinte Äskulapi. Da fing das Ferkel an zu jammern: „Ich trete doch gleich beim Krippenspiel auf. Als Erzengel Gabriel! Und mit verstopfter Nase versteht mich keiner.“ „Verstehe“, sagte Äskulapi und rückte seine große, runde Brille zurecht. „Moment, das haben wir gleich“ sagte er und lief zu einem der hohen Schränke mit den vielen Schubladen. Darauf standen Buchstaben, denn der Inhalt – Medikamente und Kräuter, Säfte und Pflaster – war alphabetisch geordnet. Die Schublade „Sch“ wie Schnupfenspray lag ganz oben links. Äskulapi musste eine Leiter holen. Durchs Fenster sah er, wie der Schnee inzwischen immer dichter fiel. Und was für ein starker Wind da draußen wehte! Da ging vorne an der Tür schon wieder die Klingel. „Hier ist was los heute!“ murmelte Äskulapi und packte die Leiter. Aus dem Ladenraum hörte er bereits jemanden laut schimpfen: „So ein Mist! So ein Pech! Ausgerechnet heute!“ Es war Herr Giulio, Pianist und Affe. Er spielte Klavier mit den Händen und den Füßen. Heute trug Herr Giulio einen schicken, gestreiften Anzug. Dummerweise hatte er sich gerade die Finger am Schokoladenfondue verbrannt, das seine Frau gemacht hatte. Und jetzt brauchte er dringend ein Pflaster, um sein Weihnachtskonzert spielen zu können. Herr Giulio hatte auch einen Assistenten dabei, den Mäusejungen Maurice. Er blätterte ihm die Noten um. Außerdem lispelte Maurice ziemlich stark. „Ss-öne Weihnachten!“ rief er Äskulapi strahlend entgegen.

Da standen sie nun alle: das Ferkel Babette, der Affe Herr Giulio, die Maus Maurice – und auch Mathilde, die Kuh, war plötzlich wieder da. Draußen tobte mittlerweile ein solcher Sturm, dass sie es nicht nach Hause geschafft hatte und umgekehrt war. „Ich muss doch zum Krippenspiel!“ quiekte Babette. „Und ich zum Weihnachtskonzert“ dröhnte Giulio. „Was für Ge-ssenke ich wohl bekomme?“ lispelte Maurice. Alle redeten durcheinander. Aber dann passierte etwas, womit niemand gerechnet hatte: Plötzlich ging das Licht aus. Es wurde stockdunkel in der Apotheke.

„Huuu!“ machte Babette ängstlich. „Ach nee, ne?“ sagte Mathilde. „Stromausfall“, stellte Herr Giulio fest. „Wo ist denn Ihr Sicherungskasten, Äskulapi?“ „Mein was?“ fragte er ratlos.

Äskulapi konnte sich nicht erinnern, dass in der Apotheke jemals der Strom ausgefallen war. Und deshalb hatte er keinen blassen Schimmer, was dieser Sicherungskasten sein sollte und wo er war. „Dann muss ich das wohl in die Hand nehmen“ meinte Herr Giulio etwas arrogant. „Folgen Sie mir. Auf in den Keller!“ Er machte einen vorsichtigen Schritt in die Dunkelheit, trat dabei aber auf Babette, die „aua“ schrie und dann flüsterte: „Bestimmt sind meine Engelsflügel jetzt zerdrückt‘. „Zuallererst brauchen wir ein paar Kerzen“ bestimmte Äskulapi und schob sich entschieden vor Herrn Giulio. Schließlich war er hier immer noch der Herr im Haus.

So tasteten sie sich der Reihe nach voran, Richtung Kellertreppe. Äskulapi ging an der Spitze. Babette drückte sich an ihn, und an ihrem Schwanz hielt sich wiederum Mathilde fest. Hinter ihr tapste Maurice, der sich im Dunkeln gar nicht fürchtete. Herr Giulio übernahm die Nachhut – zur Sicherheit, wie er meinte.

Irgendwo in der Abstellkammer gab es einen Karton mit Kerzen, wusste Äskulapi. Aber auf dem Weg dorthin mussten sie wohl ins falsche Zimmer geraten sein, denn plötzlich stieß Herr Giulio etwas an, das klappernd zu Boden fiel. Es war der Holzlöffel, mit dem Äskulapi seine Bonbonmasse umgerührt hatte. „Vorsicht, heiß und klebrig“ warnte er noch. Aber es war zu spät. „Hilfe, mein Ss-wanz!“ heulte Maurice. Er pappte am Löffel fest. „Hihi, eine Maus am Stiel“ kicherte Babette. „Klappe, du Ferkel“ schnauzte Herr Giulio. „Ruhig bleiben, Kinder“ sagte die Kuh Mathilde mit weicher Stimme. Das wirkte und alle beruhigten sich ein wenig.

So tasteten sie sich weiter durch die finstere Apotheke. Sie waren jetzt nur noch zu viert, denn Maurice, der am Löffel fest klebte, hat sie zurücklassen müssen. Man hörte nur noch das Scharren der Pfoten und das leise Klackern von Mathildes Hufen. „Pst! Was war das?“ fragte Äskulapi auf einmal. Hatte er da was gehört? „Du hörst Gespenster, Äskulapi“ lachte Mathilde und schwenkte abschätzig ihr breites Hinterteil. Das hätte sie lieber bleiben lassen.

Denn zufällig stand Äskulapis Leiter ganz in der Nähe. Sie krachte mit ungeheurem Getöse zu Boden, haarscharf an Herrn Giulio vorbei. Der bekam einen solchen Schreck, dass er im Affentempo die Schrankwand hochkletterte, über die Schubladen turnte und in Panik einige davon herausriss. Ihr Inhalt hagelte herab und die Tiere zogen erschrocken die Köpfe ein. „Autsch!“ – Babette hatte ein Lakritzdrops an ihrer verschnupften Nase getroffen. Es rieselte Schwarztee, Seidenpuder und Senfsamen. Zäpfchen kollerten herunter und eine Wolke Wattebäusche schwebte herab.

Als der Lärm sich gelegt hatte, fragte Äskulapi in die Dunkelheit: „Sind alle da – Babette? Mathilde?“ „Alles klar!“ riefen sie wie aus einem Mund. „Hier auch“ tönte es von der Decke. Dort oben hockte noch immer Herr Giulio. „Ich habe hier was entdeckt“ rief er aufgeregt und man konnte hören, wie er in einer Schublade kramte. Dann machte es klick und plötzlich ging ein Lichtstrahl durch den Raum. Mit einer Taschenlampe in der Hand sprang Herr Giulio zurück auf den Fußboden. „Herrschaften, ich habe uns allen das Leben gerettet“ verkündete er stolz. Mathilde verdrehte ihre großen Kuhaugen, aber sie lächelte ihn freundlich an. „Frohe Weihnachten!“ sagte Äskulapi und erklärte die Suche nach dem Sicherungskasten für vorerst beendet. Er fand dann auch endlich die Kerzen und alle halfen dabei, sie anzuzünden. Ihr Schein tauchte die Apotheke in einen goldenen Schimmer. Ein wirklich hübsch beleuchtetes Chaos war das!

Die Tiere schoben Äskülapis alten Ohrensessel und ein paar Kartons herbei und machten es sich darauf bequem. Sie aßen Mathildes Kekse und tranken Hagebuttenpunsch. Das Weihnachtskonzert, der Tofu-Braten, das Krippenspiel – all das war nicht mehr so wichtig. Draußen fiel der Schnee.

„He, wir haben Maurice vergessen!“ rief Babette plötzlich und sauste los, um den Mäusejungen von dem klebrigen Löffel zu befreien. Doch das hatte Maurice schon selbst erledigt und dabei ziemlich viel Zuckersirup geschleckt. Nun lag er mit kugelrundem Bauch schlafend neben dem Holzlöffel. Babette trug ihn zu den anderen. „Erzähl uns eine Weihnachtsgeschichte, Äskulapi!“ bat sie. Und Äskulapi erzählte: „Kennt ihr die Geschichte von der Maus am Stiel …“

 

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Ein Beitrag unserer/s Leserin/s Anke Hochfeld aus Rheinfelden in Baden-Württemberg.
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